70 Jahre Oratorienchor Aschaffenburg

 

Vollendet ein Mensch sein siebzigstes Lebensjahr, so hat er sein aktives Arbeitsleben meist hinter sich. Er darf auf das Erreichte mit Zufriedenheit zurückblicken und seinen Alltag mit zunehmender Muße gestalten.

Auch für den Oratorienchor Aschaffenburg bedeutet sein 70-jähriges Jubiläum ein kurzes Innehalten, um mit Stolz auf sein bisheriges Wirken zu schauen. Sein Anspruch ist es aber nicht, nun „kürzer zu treten“, sondern das Kulturleben Aschaffenburgs noch für viele Jahre zu bereichern.

Der Oratorienchor Aschaffenburg war und ist eine Besonderheit im kulturellen Portfolio der Stadt Aschaffenburg. Ohne Übertreibung kann er als ein wichtiges Stück Kulturgeschichte Aschaffenburgs bezeichnet werden. Gegründet in der unmittelbaren Nachkriegszeit war er immer ein Ausdruck eines musikalischen Bürgertums, das seine Kultur „selbst in die Hand“ - stets mit der ideellen und finanziellen Unterstützung der Stadt - nahm und so eine wichtige und willkommene Ergänzung zum städtischen Kulturleben darstellte.

Die Gründung des Aschaffenburger Oratorienchors im Jahr 1947 fiel zusammen mit einer Zeit großer materieller Entbehrungen, aber auch einer Phase des Neuanfangs und Wiederaufbaus. Unter der Leitung von Franz Büchinger, einem bewährten Chordirigenten, suchten einige Mitglieder der ehemaligen Chorvereinigung „Aschaffenburger Liedertafel“ nach einer neuen Form des gemeinschaftlichen Singens. Es waren wohl die gerade durchlebten Zeiten und eine geöffnete Weltanschauung, die zu einem völlig neuen Ansatz führten. Es entstand ein Chor ohne Vereinscharakter, ohne Bindungen an Konfessionen, Politik oder Gesellschaftsformen, offen für Gesangsbegeisterte jeder Altersgruppe mit hochgesteckten musikalischen Ansprüchen. Der neue Chor sollte für jedermann geöffnet sein, der den hochgesteckten musikalischen Ansprüchen Genüge leistete. Einziger Zweck und alleinige Aufgabe war die erklärte Pflege anspruchsvollen, gehobenen Chorgesangs mit dem Ziel, Aufführungen großer Chorwerke in bestmöglicher Qualität zu veranstalten.

Die eigentliche Geburtsstunde des neuen „Aschaffenburger Oratorienchores“ - so sein selbstgewählter Name - war der 9. November 1947 um 16 Uhr in der Sandkirche zu Aschaffenburg. Auf dem Programm dieses ersten Konzertes nach dem Krieg stand, neben Mozarts „Exsultate“, eine Uraufführung: die „Barockmesse“ von Markus Koch. In der nun 70-jährigen Geschichte sollte es übrigens die einzige Uraufführung bleiben, die der Chor gesungen hat.

Werner Haas und Bernd Hampe setzten diese Tradition fort, ehe Hans-Joachim Erhard 1972 die Chorleitung übernahm. Dieser verstand es einerseits, den Aufführungen großer Chorwerke einen besonderen, inneren Spannungsbogen zu verleihen, andererseits aber auch Programme zu konzipieren, die die Musik unterschiedlicher Komponisten zu einem logischen Ganzen verband. Gerade ihm ist es zu verdanken, dass Aufführungen durch namhafte Solisten und Orchester immer wieder zu musikalischen Ereignissen von außergewöhnlichem Rang wurden.

Die Aufführung des Requiems von Mozart im Jahre 1989 konnte Erhard krankheitsbedingt nicht mehr selbst leiten. Für ihn sprang Joachim Schüler ein, der seit 1990 die Geschicke des Chores leitet. Joachim Schüler stabilisierte und verjüngte den Chor in der Folgezeit und führte ihn, getragen von seinem musikalischen Enthusiasmus, zu neuen Höhen. Unter seiner Leitung begeisterte der Oratorienchor in den letzten Jahren nicht nur durch seine traditionellen „besonderen Konzerte“ im Oktober jedes Jahres, sondern wurde zudem wichtiger Bestandteil der von anderen Kulturträgern veranstalteten Aufführungen wie „Wenn die Magnolien blühen“, „Champagner Musicale“ oder „Tschaikowsky kennenlernen“.

Der Chor hat in jüngster Vergangenheit auch wiederholt seinen Beitrag zur Völkerverständigung geleistet. War es zunächst der regelmäßige Austausch mit Chor und Orchester der Aschaffenburger Partnerstadt Miskolc in Ungarn, so folgte im Jahr 2014 eine Einladung zu einem internationalen Musikprojekt anlässlich des 70. Jahrestages der Landung der Alliierten in der Normandie, dessen Motto „Versöhnung, Freiheit und Friede“ der Oratorienchor mit großem Enthusiasmus unterstützte.

Schwerpunkt des chorischen Wirkens wird auch künftig das alljährliche „besondere Konzert“ bleiben. Joachim Schüler verstand es in jüngster Vergangenheit, einen Spannungsbogen von Klassikern wie etwa Händel, Schubert oder Mendelssohn Bartholdy hin zu modernen Werken von Komponisten wie Jenkins und Rutter zu ziehen. Er schafft es dadurch, einerseits einem anspruchsvollen Publikum einen außergewöhnlichen musikalischen Genuss zu bereiten, andererseits lockt er mit diesem abwechslungsreichen Chorprogramm immer wieder Gesangsbegeisterte in die Reihen des Chores.

Getragen wurde und wird die Arbeit des Chors natürlich in erster Linie durch die einzelnen Chorsängerinnen und -sänger und ihren Einsatz, Individualismus und ihre persönliche Begeisterung. Hieraus lebt ein Chor, der sich in den vergangenen siebzig Jahren zu einer Konstante kulturellen Lebens in Aschaffenburg entwickelt hat und dies auch künftig bleiben will.